Kurzgeschichte von Fifi Finck

Das Streichholz

Es ist kalt, Christian öffnet mit schwitzenden Händen die Tür. Er weiß nicht, vor wieviel Jahren er diese Tür zum ersten Mal geöffnet hat. Die schwarze Türklinke, flüchtig entgratet und lackiert, wie sie sonst nur für Heizungskellertüren verwendet wird.
Als er die Tür öffnet, fällt das harte Neonlicht vom Flur in die Zelle im dritten Stock. Abends, wenn die Zellen verschlossen werden, sieht man, wie das Neonlicht im Schlüsselloch flackert, während der Schlüssel den Riegel in die Zarge schiebt. Auf dem Tisch in der Mitte flackerte die weiße Kerze, während der dritte ("der dritte" = Name) mit einem Streichholz den Wachs durch eine Kerbe ablaufen ließ. Christian mußte sich erst an das lebendige Kerzenlicht gewöhnen, während er sich gegenüber vom dritten auf einen wackeligen Stuhl setzte. Der quietschende Stuhl weckte Peter auf.
Das Bett ächtzte und wackelte, während Peter sich, vom oberen Bett aus, langsam am Fußende herunterhangelte. Die Betten auf der anderen Zimmerseite waren beide leer. Unten schlief Christian, und oben ?

Der rechte Spint war leer. Er war heute morgen entlassen worden.

Fast so lange wie der dritte war er schon in der Zelle im dritten Stock gewesen. Die Jahre waren um. Wenn sie es ihm nicht gesagt hätten, er hätte es nicht gewußt. Geburtstage feiert man bis zwanzig für sich und ab zwanzig nur noch für andere. Er wollte nicht gehen, er wußte nicht mehr, was Freiheit bedeutet. Der dritte, er möchte rauß, doch auch er weiß nicht, was hinter den Mauern ist.

Bisher hatten sie jeden Abend Geber-Skat gespielt. Das ging jetzt nicht mehr, dafür hatten sie heute ihre Becher gespült. Es war ein Feierlicher Anlaß, die Entlassung. Er hatte ihnen zwei Flaschen französischen Weißwein und Schwarzbrot zukommen lassen. Es war für sie nicht leicht, an Schwarzbrot zu kommen, die Kantine hatte nur Weißbrot.

Sie spielten ehrlich. Sie haben schon ganze Abende gespielt, ohne ein Wort zu sagen. Der dritte öffnete die die erste Weinflasche, indem er mit einem Bleistift den Korken in die Flasche hineindrückte. Messer oder Korkenzieher waren verboten im dritten Stock. Er schenkte ein. Sie redeten nie viel, aber jetzt schwiegen sie.
Er fehlte ihnen.
Nachdem der dritte Christian angeboten hatte, abzuheben, teilte er die Karten. Christian hob nicht ab, sie spielten ehrlich, wie jeden Abend. Der Stock lag in der Mitte. Der Caro-Bube fehlte, und so bestand der Stock nur aus einer Karte, schon seit Jahren. Sie blickten einander an und Christian nahm den Stock auf. Sie spielten mit den Augen, sie spielten ehrlich.
"Ich habe ihn geliebt!", sagte Peter plötzlich und im gleichen Augenblick wurde es dunkel, denn Peter spielte noch immer mit der Kerze und hatte den Docht in das flüssige Wachs getaucht. Peter zerredete immer alles, und er wußte es. Der dritte und Christian gingen nicht darauf ein, gedacht hatten sie es auch, aber vielleicht hatten sie auf Peter gewartet.

Der Mond schien durch das kleine Fenster , schräg hoch oben über dem Tisch und das Gitter warf ein großes Kreuz auf den Holzboden. Das Kreuz fiel genau auf halb drei im August, doch das war natürlich falsch. Sie hatten eine Sonnenuhr in den Holzboden geritzt. Sie zeigte die Stunden und Monate an, Tage und Jahre konnte sie nicht anzeigen. Im Sommer, wenn die Sonne hoch am Himmel stand, fiel das Kreuz nicht so weit ins Zimmer wie im Winter, wenn es bis an Peters Spint kam. Die Schrift, die sie in die Bodenbretter geritzt hatten, hatten sie mit Ruß geschwärzt, so daß die Sonnenuhr sofort ins Auge fiel, wenn man die Zelle im dritten Stock betrat. So gab die Zeit der Zelle im dritten Stock eine persönliche Note. Im August hatte er Geburtstag. Eigentlich am dritten, aber sie hatten immer gefeiert, wenn das Kreuz den August zum ersten Mal berührte.

Inzwischen hatte Peter die Kerze wieder angezündet und sie spielten weiter. Das abgebrannte Streichholz warf er ins Klo, das direkt hinter der Tür war. Die Dichtung war alt und so lief ständig Wasser aus dem Spülkasten unter der Decke ins Klo. Den ganzen Abend fuhr das Streichholz im Kreis, links langsam am Rand entlang und dann schnell durch die Mitte, als wenn es ihm dort nicht gefallen würde. Eine Runde nach der anderen.

Sie spielten die letzte Runde Skat, der dritte war diesen Abend nicht zu schlagen und die Flaschen waren schon lange leer. Peter hatte, wie immer, dieselben Witze erzählt und sie hatten viel gelacht. Sie ließen alles stehen und liegen, Peter löschte das Licht und wieder leuchtete das Gitterkreuz auf dem Boden.
Der dritte lag schon im Bett, Peter kletterte am Fußende hinauf und auf der anderen Seite lag Christian. Der dritte schlief schon, da murmelte Peter: "Ich habe zum ersten Mal französischen Wein getrunken, als mein Opa starb. Wir waren richtig gut essen." Christian murmelte irgendetwas vor sich hin, bevor er einschlief.
Das obere Bett war leer.
Fifi

Startseite